Ich heiße Otto, bin 51 Jahre alt und anonymer Nichtwähler und seit zwei Legislaturperioden trocken.

Meine Eltern waren abhängig: Sie waren beide sozialdemokratische Stammwähler. Als Willy Brandt sagte, er wolle mehr Demokratie wagen, haben sie alles gewählt was ging, sind zu allen Wahlen gegangen, zu Kreistagswahlen, Stadtratswahlen. Sogar zu den Sozialratswahlen der Rentenversicherung, dabei wussten sie gar nicht, was das ist.

Ich bin dann immer mit und durfte nicht in die Wahlkabine, wegen des Wahlgeheimnisses, sie haben es mir hinterher ja sowieso erzählt, außerdem wusste ich das ja schon.

Gegenüber von unserer Siedlung baute die Stadt ein Altersheim. Auf unserem Balkonfenster  gegenüber malte ich neunjährig mit Fingerfarbe einen Wahlzettel und ordnete die Farben richtig den Parteien zu. Da war unter den Arbeitern großes Hallo und ich fühlte mich mächtig stolz, weil ich die Erwachsenen beeindruckte. Eines morgens sah ich, dass jemand auf unseren Balkon geschissen hatte und den Wahlzettel um eine Partei ergänzt hatte. Ich musste dass alles wegmachen mit Wasser und Seife. Damit wollte sie nichts zu tun haben, sagte meine Mutter. Wochenlang litt ich unter Entzugserscheinungen und hatte zu nichts Lust.

Meine Mutter brachte mich dann zum Arzt, der nichts finden konnte, weil diese Art der Suchterkrankung damals ganz unbekannt war. Als Belohnung des Arztbesuches gingen wir in einem Spielzeugladen und ich durfte mir ein Spielzeug aussuchen. Ob sie ein Wahlspielzeug hätten? Nein, sagte der Verkäufer. Ob ich nicht Lust hätte, ein Postladenspielzeug zu kaufen. Es gäbe ja Briefwahl und sie hätten da so was ähnliches  dabei, das sei eigentlich ein Postschalter, wenn ich das Fenster zukleben würde, könne ich den als Wahlkabine benutzen.

Ich kam nach Hause und machte erst einmal die richtigen Wahlzettel. Da waren alle Parteien drauf und ganz oben meine Partei, die „Ich-Partei“. Dann spielte ich mit meinen Eltern Wahlen, die mussten mehrfach in der Woche wählen. Jetzt waren wir richtige Demokraten. Ich gewann natürlich immer.  Als meine Eltern keine Lust mehr hatten, lud ich die Jungs der Siedlung dazu ein. Der Gabriel, der Rösler, der Mißfelder und der Wulf, die haben auch gespielt, mit ihren Jungs. Statt zu wählen, ließen sie sich wählen. Die kompensierten ihre Sucht gut. Hut ab. In meinen eigenen Wahlgängen wurde es allen zu viel. Es waren ja keine richtigen Wahlen, diese Spielzeugwahlen.

Aber was sind Wahlen mit richtiger Wahlfreiheit? Diese Methadontherapie fürs Volk, dass bringt doch alles nichts, die sind alle nicht abstinent und wollen immer noch mitentscheiden. Nach so vielen Jahren, wo ihr Urteilsvermögen schon völlig von der Wählerzirose zerfressen ist.

Ich konnte es damals kaum erwarten. Beim ersten Mal durfte ich Kohl wählen, der in der ersten Zeit „Birne“ hieß. Das war vielleicht ne Droge. Was half es, wenn du es brauchst. Sechzehn Jahre hatten wir das. Es gab nichts anderes. Nicht mal der hat sein eigenes Zeug genommen. Dennoch hat diese Zeit bei ihm Spuren hinterlassen. Deshalb will er vermutlich die Tonbänder mit seinen Erinnerungen zurück, damit er sich die selber anhören kann. Wie toll er, war in seiner Zeit.

Ich hätte gern mal was Richtiges gewählt, reinen Alkohol am liebsten, Wotka Gorbatschow zum Beispiel, der war beim uns schwer zu bekommen. Der Schröder, der wollte das nach machen, hatte nicht die richtigen Zahlen und Zutaten. Der hat dann was angeboten, was rot aussah und so schmeckte, ein ganz undefinierbares Zeug, das war nicht Wein, nicht Krimsekt, noch Wotka. Das hat er mit Harz geschmacklich bisschen aufgemotzt. Die schrieben da Jahrgang Agenda 2010 darauf. Es war aber erst 2005.  Wie kann man einen Wein ernten, der noch nicht reif, ja nicht einmal geboren ist? Hatten die davon was genommen und waren selber völlig high? Nimm das, sagten sie. Wir sind die Arbeiterpartei, du bist ein Arbeiter, wir wissen, was gut für dich ist. War en richtiger Rachenputzer. Der knallte gut und man fühlte sich toll dabei.

Ich hörte viele Stimmen „Heute ist ein glücklicher Tag für die Arbeitslosen“, „Es wird nicht allen gut, aber vielen besser gehen“, „Ich möchte nicht alles anders aber vieles besser machen“, „In der Krise verfolgen wir eine Politik der ruhigen Hand“. Nun ist es soweit dachte ich. Ich war im Paradies oder im Delirium Tremens.

Nach Stunden voller Schmerzen, aber Rausch frei, vernahm ich eine andere Stimme. „Wer Visionen hat, der soll zum Arzt gehen.“ Mir war klar: Ich musste damit aufhören. Auf dem Weg zum Doktor ging ich am Briefkasten vorbei. Ich erhielt eine Umzugsaufforderung des Arbeitsamtes, weil meine Wohnung zu groß sei, solle ich eine kleinere suchen. „Tja, sagte mein Hausarzt, die machen jetzt einen kalten Entzug.“ „Aber das sind die gleichen Leute, die gesagt haben, es wird alles besser, die mir das Zeug gegeben haben.“ „Ja, das ist wie bei der Grippe Impfung, du nimmst die Viren auf, um dich gegen den Virus immunisieren.“ „Mann nimmt die Armut auf sich, um gegen Armut immunisieren?“ „Genau. Die nehmen ihr Zeug ja teilweise selber. Das ist gefährlich, man glaubt an die eigenen Visionen und das führt zu sozialdemokratischen Blackouts. Der Gabriel sagte einmal, er wollte im Altersheim nicht von einer 67jährigen Altenpflegerin getragen werden.  - Blackout - . Warum lacht ihr denn so? fragte, der Gabriel. Guck mal in Spiegel, kam es zurück. Dann wieder ein Blackout: Aber ich liebe euch doch alle!" So buhlte Gabriel um die Menge. ..." sagte mein Hausarzt.

Ich wollte das nicht mehr nehmen, ich sollte mich nicht mehr täuschen und enttäuschen lassen. Ich bin dann zu den anonymen Nichtwählern gegangen. Die konnten mir helfen. Und wir werden immer mehr, bei der Europawahl waren wir schon 45,2 % in Gelsenkirchen. Eigentlich ist das ne Größe von der die Volksparteien heute träumen können: Damit könnten wir uns einen Juniorpartner zur Koalition suchen. Nein, ich weiß was sie jetzt denken. Es gibt da so ein neues blaues Getränk auf der Getränkekarte, sieht aus Curasao-Likör. Man weiß nicht ob das drin ist, was drauf steht. Dieses Alternativgetränk ist nicht gut für Deutschland, das hat zu lange in einem brauen Eichenfass gelagert und ist über dem Reife-Zeitpunkt.

Für mich kommt das gar nicht in Frage. Ich habe zu viel Angst vor einem Rückfall. Stattdessen schaue ich lieber selig nach Münster. Dort erreichte die Partei der Nichtwähler,  - Verzeihung: die Nichtwähler  erreichten  61,9 %. Es ist zwar nur eine Europawahl, und der Vergleich hinkt: Aber das sind zwei Drittel, eigentlich mussten die Ratsparteien den Schüssel zum Ratssaal bei uns abgeben. „Hier: ist eurer, die Basis stimmt nicht mehr, wir haben keine Lust mehr.“